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Taiji und Therapie II

Taiji und Therapie - Frank Marquardt

Taiji-Meister Jan Silberstorff: Die Geschichte von Paul

Paul war krumm und schief zur Welt gekommen. Seine Knochen standen kreuz und quer und es bedurfte über ein Dutzend (insgesamt 13) Operationen, sie halbwegs zu richten. So war er körperlich behindert von Anfang an. Sein Geist jedoch war hell und wach, litt aber in seiner Entwicklung stark unter den physischen Gegebenheiten.

 

Als er ein Kind war, lernten wir uns kennen, weil seine Hausärztin ihn an mich zur unterstützenden Behandlung überwies.

Wir spielten Schach. Dies scheint ein wenig merkwürdig, war ich doch zur physischen Behandlung mit Taijiquan bestellt worden. Doch ich lehrte ihn dieses Spiel, da es Paul begeisterte und er hierüber entdeckte, dass er in der Lage ist, seinen Geist frei und unabhängig vom Körper bewegen zu können. Darauf begannen wir über die hierdurch erworbene Konzentration mit Meditation. Wie ein Taucher entdeckte er, dass da tief im Inneren eine ganz eigene Welt war, in der er sich frei von körperlicher Einschränkung bewegen konnte. Er begann diese Meditation zu lieben, sich dort zu Hause zu fühlen. Ich begann mit ihm von diesem neuen und eigentlich uralten Zuhause aus die ersten Schritte vor die Tür zu gehen. In seinen äußeren Körper. Dieser wurde von hier aus Stück für Stück strukutriert und von Verhärtungen gelöst. Auf diese Weise gelang es uns, diese gewonnene Freiheit auch in beeindruckendem Maße auf den physischen Körper zu übertragen. Bewegungen wurden effizienter und in ihrem Spielraum größer. Wir arbeiteten drei Jahre, dann verliefen sich unsere Spuren.

 

Weitere zwei Jahre später erhielt ich einen Telefonanruf der Eltern. Paul hatte begonnen regelmäßig ohne weiteren Grund plötzlich zu stürzen. Viele Fachärzte wurden bereits konsultiert, doch niemand wusste, wie dieses Phänomen zustande kam.

Auch ich befürchtete ratlos zu sein, möchte ich mich doch nicht mit Spezialisten messen, schließlich mache ich nur Taiji.

Doch als sein alter Freund und Lehrer lud ich ihn in unseren Trainingspark ein, in dem wir uns den ganzen Tag über aufhielten, gemeinsam trainierten, redeten, picknickten – ein schönes Leben hatten.

Wir sahen ihn schon aus der Ferne auf einem Wanderweg auf uns zukommen. Und tatsächlich, plötzlich stürzte er. Und wieder. Und wieder. Insgesamt vier Mal, bis er uns erreicht hatte. Ich hatte Glück, denn da wir draußen waren, konnte ich etwas eigentlich sehr Einfaches sehen, was die Ärzte in ihrer Praxis vermutlich nicht mitbekamen: Paul setzte seine Füße falsch. Er stellte sich quasi selbst ein Bein. Dies war ihm zu einer Angewohnheit geworden, die nun schon ein knappes Jahr anhielt. Als ich seine Eltern befragte, wurde mir gesagt, dass er es immer wieder täte und es sich nicht abgewöhnen könne.

Sofort nahm ich ihn bei der Hand, zog einen geraden Strich auf der Erde und ließ ihn im Gehen immer den rechten Fuß rechts, den linken Fuß links von der Linie aufsetzen. Wir praktizierten dies drei Minuten und ich hatte den Eindruck, das Problem sei für immer vorbei. Die restlichen 57 Minuten der gebuchten Therapiestunde spielten wir auf der Wiese. Nur als ich kurz weg musste, weil jemand mich begrüßen wollte, sah ich, dass eine Schülerin so lieb war, mit Paul die Übung mit dem Strich in der Zwischenzeit noch einmal zu wiederholen. Schnell kam ich zurück um dies zu verhindern. Denn ich wusste, dass nur eines in der Lage war, eine Gewohnheit nachhaltig in drei Minuten zu beseitigen, ohne dass es später wieder zurückkam: Vertrauen. Nachdem das Problem von ihm erkannt wurde, brauchte sein Unterbewusstsein nur noch die Information, dass es jetzt vorbei war. Diese Information konnte durch unsere tiefe Verbundenheit und Freundschaft in Verbindung mit Taiji übertragen werden, was für einen neutralen Arzt nicht möglich war. Durch das wiederholte Üben jedoch, würde die Information gespeichert, dass es eben noch nicht vorbei sei und ständig daran erinnert werden müsse. Zum Glück konnte dies verhindert werden.

Als die Stunde um war, kamen die Eltern, um Paul abzuholen. Um seriös zu wirken verabredeten wir noch eine Kontrollvisitation eine Woche später, doch ich wusste, das Problem war beseitigt. Nicht nur Paul und seine Eltern, wir alle waren begeistert und glücklich, als er eine Woche später entspannt und locker den Wanderweg beschwerdefrei und freudig auf uns zukam und wir dieses Mal die ganze Stunde zusammen auf der Wiese spielen konnten.

 

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Fotos: © Frank Marquardt

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