Akupunktur ·Allgemein ·Chinesische Medizin

Die Vielfalt der asiatischen Medizin – Teil 2

Die Vielfalt der asiatischen Medizin - arinahabich - 123RFZuerst den Geist, dann den Körper heilen.Um Akupunktur wirksam einsetzen zu können, muss man zuerst den Geist heilen“ steht im Neijing, einem Klassiker der Akupunktur. Doch dieser Satz lässt sich auf die ganze Medizin übertragen und sollte nicht nur auf eine Therapieform beschränkt verstanden werden. Was versteht die Chinesische Medizin unter Geist/Shen? Dieser philosophische Begriff ist nicht leicht zu erfassen. Shen stellt die Einheit des Lebens dar, nachdem sich die Jing vereinigt haben. Maciocia, als Vertreter der eher wenig spirituell ausgerichteten TCM, schreibt, der Zustand des Geistes sei vor allem ein Resultat des Zusammenwirkens von Jing und Qi. JingShen bedeute Bewusstsein und demonstriere die Interaktion und Integration von Körper und Geist, die typisch sei für die Chinesische Philosophie.JingShen könne dann auch Kraft, Vitalität und Antrieb bedeuten, allesamt Eigenschaften, die nur bei gleichzeitiger Gesundheit und Stärke von Jing und Shen bestehen könne. Hinter Shen verberge sich mehr als nur der Intellekt, denn es drücke die ganze Sphäre emotionaler, mental-intellektueller und spiritueller Aspekte des menschlichen Wesens aus und umfasse nicht nur das Herz, sondern die Äußerungen aller anderen Organe, v.a. der Zang.

Allein Shen ermöglicht dem Menschen Zutritt zur wahren Erkenntnis, zur Wahrnehmung der innersten Natur, zum Erkennen der natürlichen, wie himmlischen Ordnungen der Wesen und Dinge. Diese Stütze des Sichtbaren ist selbst unfassbar, denn „Das Mysterium (das tiefe Mysterium, das das ursprüngliche Mysterium ist) bringt die Geistigen Welten/Shen hervor“ (Neijing). Shen ist der Himmel in uns, der uns leitet. Er behütet uns, wir müssen ihn behüten. Zhang Jiebin drückt das so aus: „Wenn wir die Geistigen Welten/Shen unterdrücken, gehen sie verloren; wenn wir sie zufriedenlassen, bleiben sie. Folglich ist das Wichtigste in dem Verhalten und der Lebensweise eines Seins der Unterhalt der Geistigen Welten /Shen; danach erst kommt der Unterhalt des Körpers.

Der Geist ist also der ewige Aspekt unseres Seins, der sich als Seele in unserem Sein für die Dauer unserer irdischen Existenz inkarniert. Dieser Geist lässt sich wiederum in verschiedene Aspekte oder Unterseelen differenzieren. Die Physis wird von der animalischen Geistseele Po gesteuert. Die Hun-Seele kontrolliert das bewusste und unbewusste Denken, die Yi-Seele dagegen die Vorstellungskraft. Unter dem Zhi verstehen die Chinesen die Willenskraft. Shen als Aspekt des Herzens stellt dagegen das göttliche Bewusstsein dar. Und alle gemeinsam sind der Ausdruck von Shen, den geistigen Welten des Menschen.

Im Neijing steht weiter: “Akupunktur wirkt so: wenn Lebenskraft und Lebensenergie des Menschen nicht dessen eigenen Willen antreiben, kann seine Krankheit nicht geheilt werden…, wie kann dann eine Krankheit geheilt werden, wenn im Körper keine geistige Kraft mehr vorhanden ist?“ Dieses Zitat verdeutlicht, wie wichtig die Behandlung auf der geistigen Ebene ist, um so Einfluss auf die körperliche Ebene zu bekommen. Nicht der Arzt heilt den Patienten, sondern der eigene Lebenswille des Patienten heilt diesen selbst. Jede Therapie muss also darauf zielen, die selbstregulierenden Kräfte im Patienten zu aktivieren, um so auf allen Ebenen das Ungleichgewicht auszugleichen.

Die Betonung der Bedeutung des Geistes weist uns aber auf noch etwas mit aller Dringlichkeit hin: Der Mensch als Patient muss aus Sicht der Chinesischen Medizin als Individuum gesehen werden, und zwar als einzigartige Persönlichkeit, die aufgrund ihrer Lebensumstände bestimmte, individuelle Symptome entwickelt. Diese Symptome gilt es sorgfältig zu sortieren und zu bewerten, um die Erkrankung mit ihren speziellen Symptomen dann in seiner Entstehungsgeschichte zu erfassen, zu einem Syndrom zuzuordnen, um daraus geeignete Therapiestrategien zu entwickeln. Ted Kaptchuk erwähnt in seinem Grundlagenwerk das Beispiel der sechs Patienten mit Magenschmerzen: nach westlicher Auffassung ergaben die Untersuchungen die einheitliche Diagnose Magengeschwür. Betrachtet man die Symptomatik dieser Patienten aber im Sinne der Chinesischen Diagnostik, zeigt sich, dass sechs sehr unterschiedliche Erkrankungen vorliegen, die zum Teil konträr behandelt werden würden. Selbst bei identischem Syndrom kann dennoch eine andere Entstehungsgeschichte vorliegen, die in der Therapie beachtet werden muss.

Wissenschaftliche Nachweisbarkeit

Und dies führt alle vergleichenden Studien zur Wirkung der Chinesischen Medizin mit modernen, wissenschaftlichen Methoden (in Deutschland z.B. die Gerac-Studie etc.) ad absurdum. Es kann doch nicht darum gehen, sich mit Gewalt in der westlichen Schulmedizin zu legitimieren, indem alles einer „wissenschaftlichen“ Untersuchung mit ungeeignetem Set-up unterworfen wird und nur noch Akzeptanz findet, was scheinbar beweisbar ist? Randomisierte klinische Studien, die die Grundlage der evidenzbasierten Medizinforschung im Westen sind, lassen sich einfach nicht auf das Konzept der chinesischen Medizin übertragen, denn sie beruht darauf, dass jeder Patient, auch wenn die gleiche schulmedizinische Diagnose gestellt wurde, eine andere Entstehungsgeschichte seiner Erkrankung aufweist.

Der Mensch in seiner Ganzheit kann und darf nicht ausgeklammert werden. Dann verbliebe nur noch ein rudimentäres Skelett der Chinesischen Medizin, das in Formeln und Standards erstarrt. Das erklärt dann auch, warum mancher Dozent an anerkannten Universitäten in China privat eine kleine Praxis betreibt, in der er heimlich ganz anders arbeiten kann, plötzlich wieder mit be-„Geist“-erung behandelt, wie ich es selbst in Beijing erlebt habe. Auseinandersetzung mit den Prinzipien, Hinterfragen der Philosophie, Integrieren neuer Erkenntnisse, das alles kann und muss auch geschehen. Aber dennoch muss der Mensch in seiner Ganzheit respektiert werden.

Voraussetzung für wissenschaftliches Vorgehen ist zunächst für eine klare Fragestellung einen geeigneten Versuchsaufbau zu definieren und schließlich gründliche Beobachtung. Diese Kriterien erfüllte z.B. Yoshio Manaka, der die Wirkung der Akupunktur sehr systematisch erforschte. Er schreibt: „… stehen die Theorien der Akupunktur und der ostasiatischen Medizin auf demselben theoretischen Fundament wie die westliche Wissenschaft. Die offensichtlichen Konflikte entstehen aus der Weigerung, die wissenschaftlichen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts wirklich anzuerkennen, die bereits weit über die herkömmliche Wissenschaft eines Isaac Newton, die nach wie vor in Medizin und Biologie dominiert, hinausgegangen sind.

In der heutigen Zeit sind Erkrankungen in den Industriekulturen mehr und mehr stressindiziert, weil die Menschen überbelastet werden, v.a. in einer „unnatürlichen“ Weise. Gerade hierin liegt doch aber die große Bedeutung der klassischen Chinesischen Medizin, wie auch von Lonny S. Jarrett betont wird, dass der Sinn der Therapie eben im „Nourishing Destiny“ läge, im Unterstützen der persönlichen Bestimmung des Patienten anstelle standardisierter Vorgehensweisen. Definitionen, Syndrome und deren Leitkriterien, Formeln, das sind die Lehrinhalte, die von jedem Einzelnen auswendig gelernt werden können und müssen, ebenso wie z.B. Lehrbuch-Lokalisationen der Akupunkturpunkte. Nur dieses Wissen kann im Multiple-Choice-Test einfach abgefragt werden, macht aber nur einen winzigen Teil dessen aus, was praxisrelevant ist.

Um z.B. die Nadel wirklich „als Pfeiler der Seele“ (so lautet die Übersetzung in einem Klassikers der Akupunktur!) einsetzen zu können, muss sich der Akupunkteur und Schüler intensiv mit dem Leben in all seinen Formen auseinandersetzen. Dieselbe Forderung stellt auch das ebenfalls mit dem Qi arbeitende Shiatsu an seine Therapeuten. Masunaga, einer der wegweisenden Lehrer des Shiatsu, betonte die Kommunikation von Herz zu Herz und das Bemühen, den Patienten psychisch und körperlich zu verstehen, statt nach einer Krankheit zu suchen.

Dies aber kann man nicht aus Lehrbüchern lernen. Der Therapeut muss lernen, mit all seinen Sinnen wahrzunehmen, wie sich das Leben in der Natur und auch in seinem Patienten widerspiegelt. Er muss hören, sehen, riechen, fühlen lernen. Das kann man nicht theoretisch erfassen -denn wie riecht ein Ungleichgewicht im Herzen, wie fühlt sich ein Puls an, wenn im Patienten alle Hoffnung erloschen ist, wie klingt der Unterschied in der Stimme bei Hoffnungslosigkeit, weil man keine Freude mehr aufnehmen kann, oder weil ohnehin alles Leben sinnlos und ungreifbar erscheint? Absicht beeinflusst das Qi, also die Behandlung – lehrten schon die Klassiker, modern bewiesen durch die Erkenntnisse der Quantenmechanik. Dies sind Lerninhalte, die nur mit Hilfe von qualifizierten Dozenten in einer intensiven mehrjährigen Ausbildung zu erarbeiten sind, die Schüler unter fachkundiger Supervision am Patienten erleben sollten.

Die chinesische Medizin als abgeschlossenes Heilsystem gibt es nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass das Geheimwissen bis heute einen wichtigen Bestandteil des Prestiges eines Arztes ausmacht, das nur innerhalb der Familie/Linie weitergegeben wird. Weder die Grundlagen noch die Diagnostik oder die Theorie der chinesischen Medizin sind standardisierbar. Dennoch ist das kulturelle Wissen der chinesischen Medizin bis heute erhalten und verfügbar. Wichtig ist zu unterscheiden zwischen unaufmerksamer Vermischung verschiedener Konzepte (Theorien, auf denen die Pharmakologie aufbaut im Vergleich zu energetischen Theorien), zwischen standardisiertem, stupidem Handwerk (verweist z.B. bei Nackenschmerzen stereotyp auf den einen gelisteten Akupunkturpunkt, der „magische Punkt“ für Symptom XY) und der Kunst der chinesischen Medizin, das Leben zu erhalten. Letzteres zu erhalten sollte unser Anliegen sein, ob als Patient oder Therapeut, Dozent, Schule oder Verband, ob in Deutschland, China oder weltweit!

Cover "Das Geheimnis der gesunden Mitte"

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Foto: © arinahabich – 123RF

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