Allgemein ·Chinesische Medizin ·Die 12 Organsysteme

Das Netzwerk Herz/Xin

Das Netzwerk Herz - 123rf, Qi FengIn diesem Beitrag wollen wir einen ersten Blick auf das wohl wichtigste Organnetzwerk des Menschen werfen, das Herz/Xin. In der Klassik der Chinesischen Medizin gilt das Herz als der Urgrund allen menschlichen Lebens. Es verbindet uns mit dem sogenannten „Großen Herzen“, dem gesamten Universum, dem Dao.

Das Huangdi Neijing – Der Medizinklassiker

Das Huangdi Neijing, Der Klassiker des Gelben Kaisers zur Inneren (Mikrokosmischen) Medizin bezieht sich fast vollständig auf das Herz. In fast jedem Kapitel zeigt sich, wie tief durchdrungen das Neijing, und damit die früheren Menschen und insbesondere die alten Ärzte, von der allumfassenden Macht des Dao, der Natur, dem Kosmos waren. Immer wieder warnt Qibo, der heilige Lehrer des Gelben Kaisers, die Menschen und Ärzte vor dem Verlassen dieses Weges. Und auch für die Therapie kommt immer wieder der Standpunkt durch, dass der Mensch sich immer der Natur anpassen muss, will er gesund bleiben. Er muss dem Wandel des Universums ohne Einschränkung folgen und dabei reinen Herzens bleiben.

Gleich im ersten Kapitel (wo sonst!!) des Neijing steht, unter der Überschrift „Universelle Lehren“ sinngemäß etwa: „Möchte der Mensch seine volle Lebenszeit gesund und glücklich verbringen, so muss er dem Dao folgen. Die Menschen früherer Generationen verstanden dies noch zu tun. Sie verwirklichten die Prinzipien der Balance/Harmonie, welche sich ihnen im Geist des Universums/Natur offenbarten. Die

Natur eint alles, der Mensch ist ein Teil dieser Natur.“

Also, gleich in den ersten Zeilen wird, in einer Art komprimierten Darstellung des vollständigen Textes des Neijing, dem Leser erläutert, worum es letztlich einzig und alleine geht. Folge dem Dao, wandele dich mit dem Fluss der Natur und bewahre dabei ein reines (stilles) und heiteres Herz. Etwas später wird im Neijing, wie auch in anderen klassischen Quellen, der Große Arzt beschrieben als derjenige, der es versteht, in seinem Patienten genau diesen Aspekt des Lebens, dem Folgen der Natur, dem Loslassen eigener Wünsche  wieder in den Vordergrund zu rücken. Und dies kann nur auf der höchsten Ebene des Mensch-Sein, der des Geistes, des Herzens erfolgen. Der kleine und der mittlere Arzt arbeiten nur auf der körperlichen bzw. der energetischen Ebene des Menschen und sind deshalb deutlich weniger erfolgreich.

In Kapitel 8 im Neijing, Suwen, finden wir dann, unter dem Titel „Heilige Lehren der Spiritualität“ zu allen 12 Organnetzwerken einige wenige Sätze über deren Hauptfunktionen. Das wir dort so wenig Informationen finden, liegt einzig und allein daran, dass zu der Zeit nicht wiederholt wurde, was bereits bekannt war. So bezieht sich das Neijing mit der Nennung der 12 Organnetzwerke und deren Funktionen direkt auf die schon bekannten anderen Textquellen seiner Zeit, in denen schon etwas zu eben diesem 12er-Zyklus geschrieben stand. In der Regel waren dies seinerzeit philosophische, agrikulturelle und astrologische Literatur. Die Frage Huangdi´s ist denn auch, ob Qibo ihm etwas über die Funktionen der 12 Organnetzwerke und den dazugehörigen Meridianen erläutern könne.

Qibo antwortet: „Welch vortreffliche Frage. Das Herz ist der Kaiser aller Organnetzwerke. Das Herz ist es, welches den Körper führt und alle anderen Organe richten sich ausschließlich nach ihm. Im Herzen entfaltet sich unsere Bewusstheit. …“

Es sei hier nochmals kurz darauf hingewiesen, dass mit der Nennung des Konzeptes der „12“ nun sämtliche Literatur, die das Thema „12“ hatten, dem angehenden Arzt etwas über die Organfunktionen im Menschen vermitteln konnten. So sind selbstverständlich auch unsere hiesigen 12 Tierkreiszeichen in der Astrologie voll von Informationen über den Menschen und seine Organfunktionen.

Egoismus

Die Hauptfunktion des Herzens ist also das Erkennen der Welt als Ganzes, das Betrachten aller Dinge als Eins. Wenn der Kleine Prinz sagt: „Nur mit dem Herzen sieht man wirklich gut!“, dann meint er genau diese Fähigkeit des Menschen, in allem die Einheit zu sehen und anzuerkennen. Dies wiederum hat sehr weitreichende Auswirkungen auf unser Menschsein allgemein und im Detail. So ist laut dieser Definition Egoismus etwas, was nicht allzu stark oder besser gar nicht zum Vorschein kommen soll. Deutlicher ausgedrückt, sollte egoistisches Denken und Handeln in uns gar nicht existieren. Das ist natürlich starker Tobak in dieser heutigen Zeit, in der Egoismus, so jedenfalls der Eindruck manchmal, einfach alles ist. An sich ist die Sache ganz einfach, dies hat schon der Kabarettist Hans-Dieter Hüsch seinerzeit erkannt – Jeder braucht jeden! Anders funktioniert das Leben nicht! Und so beschreibt er in einem Beitrag, dass der Pfarrer die Schäfchen braucht, sonst ist er nichts. Außerdem braucht er einen Schneider, einen Schuster und einen Bäcker, sonst hat er nichts zum Anziehen, keine Schuhe und kein Brot als Nahrung. Der Schuster wiederum braucht ebenfalls den Bäcker und den Schuster und zumindest manches Mal auch den religiösen Rat des Pfarrers. Und so spinnt er diese Idee weiter und macht, auf seine humorvolle Art deutlich, was eigentlich jeder Mensch wissen müsste. Jeder braucht jeden! Ohne den Anderen sind wir nichts!  Wer wäre ein Ackermann, wenn keiner in seine Bank ginge? Was wäre schon eine Kanzlerin, wenn keiner sie wählen würde. Was wären Produkte (von welcher Firma auch immer), wenn keiner sie kauft; was wären Predigten, wenn keiner sie hört; was Musik, wenn keiner sie macht; was wäre ein Lehrer ohne Schüler, was Schüler ohne Lehrer; was wäre ein Auto ohne Mechaniker, was ein Mechaniker ohne Auto; was wäre ein Einzelner ohne die Anderen; was wären die Menschen ohne die Erde??

Die Einheit sehen und leben

Wenn wir also, was hoffentlich klar geworden sein dürfte, ohne den Anderen nicht leben können, wie sollte es dann sein? Nun, das Herz ist in der Lage, in all seinem und damit unserem Tun, den Anderen nicht zu vergessen. Egal was ich auch tue, wie ich auch denke, was ich auch entscheide, das Herz bindet alle Lebewesen in diese Entscheidungen mit ein. Und um dies gleich klar zu stellen, das kann nur das Herz, nicht der Verstand. Doch es ist bei weitem nicht damit getan, nur zu schauen, wen ich alles berücksichtigen muss in meinen Entscheidungen. Es geht vielmehr zuvorderst  um das Erkennen der eigenen Situation, in der ich mich befinde. Es geht zuerst darum, mir selbst näher zu kommen, meinen Verstand beiseite zu schieben und zu schauen, wer ich wirklich bin, jenseits aller Vorstellungen, Konditionierungen, Wünsche, Konzepte, Weltbilder, Urteile. Wer bin ich? was macht mich wirklich aus? Dies ist der erste Ansatz, den ich verfolgen muss, damit ich überhaupt etwas wie Einheit wahrnehmen kann. Wo ist meine mir eigene Einheit? Dies ist heutzutage umso wichtiger, ich möchte fast sagen, von existenzieller Bedeutung, da wir es in unserer modernen Welt ja völlig verlernt haben, uns selbst als Einheit zu betrachten. Die Medizin trennt alles, der Verstand trennt alles, der Beruf trennt alles, wir trennen inzwischen alles, als hätte der Magen nichts mit dem Bein zu tun und die Probleme im Job nichts mit meinem Zuhause, die Finanzkrise nichts mit dem Volk und das Wetter nichts mit uns, die seelischen Schmerzen nichts mit meinem Körper und die Nachbarfamilie nichts mit mir. Das Herz nicht zu verlieren, geht also weit über das hinaus, was den meisten lieb ist. Das erfordert Gongfu, bereit zu sein sich zurückzunehmen um die große Sache, die Erde, die Menschheit in den Vordergrund zu bringen und dann als Einheit alle Lebewesen ins Glück zu führen. Nicht egoistisch zu denken, zu handeln, zu sein, bedeutet, dass ich immer den Rest der Welt mit in mein Denken und vor allem in mein Tun mit einbeziehe. Es ist keine verstandesmäßige Art zu leben, sondern eine intuitive, eine äußerst offene und aufmerksame Art zu sein.

Freiheit

Chödron Trungpa schreibt, dass Freiheit eine Illusion sei. Und es stimmt. Mir ist das vor vielen Jahren in einer Fernsehdiskussion aufgegangen, als es um das Thema Rauchen ging. Gerade war das Nichtrauchergesetz verabschiedet worden. In der Talkshow argumentierte ein bekannter Schauspieler, dass er es unmöglich fände, wenn der Staat ihm die Freiheit nähme, selbst zu entscheiden, wann, ob und wo er rauchen würde.

Mir wurde in diesem kleinen Augenblick schlagartig klar, was für einen Quatsch dieser Mensch dort gerade erzählt, nur um weiter überall rauchen zu dürfen. Und natürlich führt er dabei das höchste Gut des Menschen, seine Freiheit an. Abgesehen davon, dass wir womöglich tatsächlich sehr oft vom Staat bevormundet werden und uns leider nicht dagegen wehren, liegt es hier offensichtlich auf der Hand, dass dieser besagte Schauspieler nicht von wahrer Freiheit sprechen konnte. Wie kann ein Süchtiger frei sein?? Wie kann jemand, der nicht in der Lage ist, auf etwas zu verzichten, von seiner Freiheit, seiner Wahl sprechen. Ein Süchtiger hat keine Wahl und somit überhaupt keine Möglichkeit zur Freiheit.

Und so verstand ich auf einmal die klassischen Texte der Chinesischen Medizin viel tiefer, wo oft genug aufgeführt wurde, dass nur der frei wäre, der sich mit dem Strom treiben lässt ohne eigene Bedürfnisse und Wünsche. Und dass derjenige ein armer Abhängiger seiner Vorstellungen sei, der meine, er könne selbstbestimmt leben. Es meint dieselbe Idee wie vorher in dem Beispiel des Rauchers. Wir sind so abhängig von so vielen Dingen wie Meinungen, Vorbildern, Gesetzen, Verordnungen, Weltbildern, Vorlieben uvm., die ja allesamt letztlich nur Konditionierungen sind. Welche dieser Vorstellungen und Wünsche ist wirklich aus einem freien Geist entstanden? Und so verweisen die esoterischen und spirituellen Schriften des Altertums gerne auf die Sicherheit, dass all unser Tun in einem Zusammenhang steht, den wir meistens nicht in Freiheit entschieden haben. Einige haben Erfahrungen zur Grundlage, andere Sachzwänge, wieder andere tief in uns schlummernde Sehnsüchte. Süchte und Zwang können niemals frei sein und eine Erfahrung geht heutzutage immer einher mit einer Bewertung und ist in dem Moment auch nicht mehr frei. Nehmen wir als Beispiel die Erkältung, keiner will sie und wir unterdrücken sie oft sogar, doch als Reinigungsprozess ist sie für unseren Körper von unsagbarem Vorteil. Und dies ist nur ein wirklich harmloses Beispiel.

So heißt es in alten Texten des Fernen Ostens denn auch, dass wir lieber die Marionette des Lebens/der Natur/ des So-Seins sein sollen, als die Marionette unserer Wünsche, Vorlieben und Bedürfnisse.

All dies ist eine Funktion, die in unserem Herzen verborgen ist und die wir zum Vorschein bringen sollen. Dies ist der Sinn des Lebens. Ich glaube es war Ramesh Balsekar, der so schön formulierte: „Abends müde ins Bett zu fallen, ist der wahre Sinn des Lebens!“

Wie in diesen Zeilen aber hoffentlich deutlich zum Ausdruck kommt, haben wir es mit einem Verständnis des Menschen, seinen Organen und dem Leben überhaupt zu tun, welches viel tiefgreifender, viel holistischer und viel befriedigender ist, als all das, was wir in den letzten Jahrzehnten so gelebt und für gut befunden haben. Das Huangdi Neijing warnt davor, das Herz zu vernachlässigen. So heißt es dort: „…Denn stirbt das Herz, welche Hoffnung bleibt dann noch für die Menschheit!?“.

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Poster Organuhr
Poster: Die Organuhr der Chinesischen Medizin

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Foto: © 123rf – Qi Feng

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