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Thomas Seebeck: Osteopathie und TCM – gibt es Gemeinsamkeiten?

134EllenbogenbJa, die gibt es – was besonders interessant ist, weil der Begründer der Osteopathie, Andrew Taylor Still, vermutlich niemals etwas von der TCM gehört hat.

Still wurde 1828 als Sohn eines methodistischen Priesters und einer pragmatisch-funktionell denkenden Mutter im mittleren Westen der heutigen USA geboren. Schon früh begann er ein intensives Studium der Natur, die er oft als das wichtigste aller Lehrbücher bezeichnete. Zum Teil auch aus Enttäuschung über die Schulmedizin entwickelte er die Osteopathie und gründete 1874 in Kirksville, USA, die erste Schule zum Erlernen dieser Behandlungsmethode.

Einen großen Bekanntheitsgrad erlangte Still durch seine zahlreichen Behandlungserfolge auch bei akuten Erkrankungen und im Bereich der inneren Medizin. Heutzutage wird die Osteopathie vor allem als Behandlungsmöglichkeit bei Funktionsstörungen am Bewegungsapparat angesehen.

Still vermutete den Ort der Krankheitsentstehung in den Faszien, die als bindegewebiges Netz in bestimmten Verlaufsrichtungen den gesamten Körper an der Oberfläche und in der Tiefe verbinden – sie entsprechen den Meridianen in der TCM.

Die Schulmedizin seinerzeit lehnte er ab, weil sie oft wirkungslos war. Er selbst verlor vier seiner Kinder, denen die Schulmedizin nicht helfen konnte. Den Ärzten gab er daran nicht die Schuld, sondern dem System, dem sie vertrauten und besonders dem kritiklosen Anerkennen der etablierten Lehren. Die einmal aufgestellten Dogmen wurden von der Ärzteschaft nicht hinterfragt oder überprüft. Außerdem betrachtete er die Medikamente seiner Zeit (z.B. Alkohol, das quecksilberhaltige Kalomel, Morphin, Chinin und Belladonna) als höchst bedenklich.

Durch intensive Naturstudien kam er zu der Erkenntnis, dass der Mensch eine untrennbare Einheit aus Körper, Geist und Seele („Triune man“) ist, der Selbstheilungskräfte besitzt, die es freizusetzen gilt.

Der osteopathische Arzt muss exakte Kenntnisse über die Anatomie und Physiologie des Menschen haben, um sinnvoll zu therapieren.

Still war der Meinung, dass alle Flüssigkeiten im Körper frei fließen können müssen, da ansonsten Krankheiten entstehen können – hier zeigt sich eine hohe Übereinstimmung mit Begriffen und Prinzipien der TCM (Shen, Qi, Xu, Fluss des Qi, Selbstheilungskräfte).

Still bemängelte bei seinen Studenten häufig, dass sie sich „Kochrezepte“ zur Behandlung ihrer Patienten wünschten, anstatt selbst über die Symptome nachzudenken. Er hielt sich an Kants Vorschlag „Sapere aude!“ – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“. Hier zeigt sich die wichtigste Bedingung zum erfolgreichen Behandeln: Achtsamkeit! Denn jeder Patient kommt mit einem ganz einzigartigen Problem. Auch in der TCM denkt man so: Es gibt viele Möglichkeiten, ein Symptom zu deuten und erst durch die genaue Beobachtung aller Symptome entsteht daraus ein Muster, welches zur richtigen Diagnose führt.

So können sehr unterschiedliche Symptome auf eine ähnliche Krankheit hinweisen, und umgekehrt können ähnlich Symptome zu sehr unterschiedlichen Diagnosen führen.

In der Schulmedizin sieht man das anders, vereinfacht ausgedrückt: Ein Symptom – eine Krankheit – ein Medikament!

Da Still darauf beharrte, dass es immer viele verschiedene Therapiemöglichkeiten und Wege zur Heilung gebe, lehnte er es ab, seine Techniken in einem Lehrkurs zu demonstrieren – allein die korrekte Anwendung der Prinzipien der Natur sollte dem Osteopathen den Weg weisen!

Die osteopathische Behandlung innerer Organe, so wie sie inzwischen auch in den USA gelehrt wird, geht auf den französischen Physiotherapeuten Jean-Pierre Barral zurück, der für seine Forschungsarbeit zur Osteopathie vor einigen Jahren vom Times-Magazin zu den bedeutendsten Wissenschaftlern der Welt gezählt wurde.

Wie wird heute in so einer osteopathischen Therapie behandelt?

Es wird zwischen der funktionellen Osteopathie (sog. Fulcrumtechniken, Biodynamische und Bioenergetische Techniken) und der strukturellen Osteopathie unterschieden. Strukturelle Behandlungen versuchen, durch sog. direkte und indirekte Gewebemanipulationen einen Spannungsausgleich im Körper zu schaffen. Ebenso wie im Qigong geht es auch hier darum, den Körper zwischen Himmel und Erde möglichst perfekt auszurichten. Dafür gibt es zwei Wege, die hier anhand des Symptoms „verspannte Wadenmuskulatur“ (ein Zustand, der in der Osteopathie als „somatische Dysfunktion“, in der TCM als „Qi-Stau“ bezeichnet wird), aufgezeigt werden:

Soll die Spannung im Muskel verringert werden, so kann man ihn in eine gedehnte Position bringen, also das Wadenbein so weit wie möglich strecken, und warten, bis das Gewebe nachgibt. Dies wird als „direkte“ Technik bezeichnet.

Umgekehrt kann man den Muskel aber auch in die größtmögliche Entspannung bringen, z.B. im Fersensitz, und einige Zeit abwarten bis die Blockade sich löst. Dies ist die sogenannte „indirekte“ Technik.

In beiden Fällen ist das Ziel eine Abnahme der übermäßigen Spannung, die den Körper zwingt, Energie zur Aufrichtung gegen diese Verspannung aufzuwenden. Es findet eine Bewegung hin zur Midline („Mitte“) statt, mit dem Resultat, dass dem Körper mehr Energie zur Selbstheilung zur Verfügung steht.

Die Selbstheilungskräfte sollen also gestärkt werden, damit sich der Körper selbst heilen kann.

Dort, wo die somatische Dysfunktion (oder Qi-Stagnation) aufgelöst wurde, wird ein Wärmegefühl entstehen, das auch in der chinesischen Medizin als Zeichen für eine erfolgreiche Behandlung gewertet wird.

Die Wadenmuskulatur ist aber nur der Eintrittspunkt für die Behandlung (sog. Point of Entry). Dem Osteopathen ist bewusst, dass die Symptomatik immer im Gesamtkontext des Körpers gesehen werden muss, da alle Muskeln über die Faszien miteinander verbunden sind (sog. myofasziale Ketten). In unserem konkreten Beispiel ist das die sogenannte „oberflächliche Rückenlinie“, die in frappierender Weise dem Blasenmeridian entspricht. Es gibt noch viele weitere myofasziale Ketten, die ebenfalls den Meridianen in der TCM entsprechen. Desweiteren finden wir innerhalb dieser Ketten Querverbindungen und „Nebengleise“, die ebenfalls Entsprechungen in der TCM haben.

An den Verkettungsstellen finden wir jeweils wichtige Akupunkturpunkte!

Darstellung des osteopathischen Blasenmeridians:

Blasenmeridian

Noch spannender, aber auch ungleich schwieriger zu erklären, ist die funktionelle Osteopathie. Hier wird nicht das Gewebe gezogen oder geschoben, um es einmal ganz platt auszudrücken, sondern es wird Raum für Veränderung geschaffen.

Man kann ganz grob sagen, dass für eine strukturelle Osteopathie eine Hand zur Behandlung ausreicht, während man für die funktionelle immer beide Hände benötigt.

Aber wie und was wird behandelt?

Zunächst einmal spricht man in der funktionellen Osteopathie nicht von „somatischer Dysfunktion“, sondern von einem „Fulcrum“. Dieses ist eine Art Dreh- und Angelpunkt, um den herum sich das Gewebe des Körpers organisiert. Im Fulcrum selbst findet keine Bewegung statt – man betrachtet es eher als das Auge eines Sturms. Legt der Osteopath die Hände auf den Körper des Patienten, so kann er erspüren, wo ein Fulcrum liegt, selbst wenn es sich nicht zwischen seinen Händen befindet. Behandelt wird lediglich dadurch, dass das Fulcrum beobachtet wird – und zwar vollkommen absichtslos. Spannenderweise scheint sich dieser Punkt dann im Körper zu verschieben, für gewöhnlich in Richtung der Mittellinie des Körpers.

Diese Art zu behandeln erfordert ein extrem hohes Maß an innerer Achtsamkeit. Am schwierigsten ist es am Anfang, sich selbst völlig außen vor zu lassen („Zero Voltage“) und nicht willentlich in das Geschehen einzugreifen.

Aber was passiert eigentlich?

Mit reiner Achtsamkeit umgehen wir unseren Verstand und treten in die Welt des Dao ein, in der sich Ordnung ganz von allein einstellt.

Laotse sagt:

Der Weise sieht stets das Ganze
und urteilt nicht.
Er nimmt die Welt genau so war,
wie sie sich ihm zeigt.
So handelt er ohne Hintergedanken,
so bewirkt er Veränderung,
ohne eine bestimmte Veränderung
im Sinn zu haben.
So erreicht er,
ohne es bewusst anzustreben.

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