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Dao: Der Weg zum natürlichen Denken

Dao - 123rf, Todd ArenaViele von uns reden von einem neuen Denken, um uns selbst und unsere gesellschaftlich-kulturellen Aktivitäten in mehr Harmonie mit der Natur zu bringen. Diesem Thema haben sich nicht nur seit Jahrtausenden Daoisten, sondern auch griechische Naturphilosophen zugewandt. Sie haben meditative Übungen gefunden, um das Denken natürlich zu machen. Dabei haben sie in Selbstbeobachtung erkannt, dass der Erforschung des Denkens durch das Denken Grenzen gesetzt sind, die jedoch durch Üben überwunden werden.

Darauf bin ich bis zu einem gewissen Grad in Ben-Biao (Hubral, 2011) eingegangen, jedoch nicht in dem Umfang wie hier, wo ich insbesondere die großen Ähnlichkeiten zwischen Daoisten wie Laozi (ca. 604-531 v.u.Z.) und griechischen Naturphilosophen wie Platon (427-347 v.u.Z.) und Heraklit (ca. 535–475 v.u.Z.) hervorhebe. Sie alle haben ihr Denken durch Üben erweitert.

 

Grundlagen

Die folgenden zwei Äußerungen zeigen, dass Platon und Heraklit – so wie auch Daoisten – ein tiefgründigeres Verständnis vom Denken hatten, als das was man heute darüber verbreitet.

Platon (Timaeus): Nur das daimónion hat Einsicht, der Mensch kann nichts vollbringen.

Heraklit (Frag. 102, schol. vet. ad Hom. Il. 4,4): Für das daimónion ist alles gerecht; nur die Menschen halten das eine für gerecht und das andere für ungerecht.

Beide Zitate verweisen mit „Mensch“ auf das „Ich“, das durch die uns umgebende Welt mittels der Sprache definiert ist. Platons Aussage ist für mich gleichbedeutend mit meiner folgenden Interpretation, die auf der Dao-Lehre basiert und die ich im Anschluss ausgiebig rechtfertige:

Einsicht ist dort, wo mein diskursives Denken, das durch das Ich geprägt ist, nicht hingelangt. Sie kommt zustande im daimónion, der Mischung aus Ich und Nicht-Ich, auf die mein intuitives Denken in gedanklicher Abwesenheit zurückgreift.

Das diskursive Denken basiert auf der Sprache und das intuitive nicht. Akzeptiert man meine obige Interpretation, dann ist damit auch meine Auslegung des Zitats von Heraklit erklärt, die ich wie folgt kurz zusammenfasse und später erkläre:

Für das daimónion fallen alle Gegensätze, wie schön und unschön, gut und schlecht, gerecht und ungerecht, usw. zusammen. In anderen Worten, was mein Ich als gerecht betrachtet, ist nur eine Meinung. Sie prägt mein diskursives Denken, das auf Gegensatzpaare (Plato: dyás = Zweiheit) wie schön und unschön, usw. zurückgreift, wohingegen deren Zusammenfallen (aóristos dyás = ungetrennte Zweiheit) der Intuition nutzt.

Daimónion ist ein altgriechisches Äquivalent für Taiji und Dadao, die in der Dao-Lehre (Hubral, 2008, 2011) äquivalent sind. Sie sind von zentraler Bedeutung im Verständnis des Denkens.

 

Dadao = Taiji

Konfuzius (ca. 551-479 v.u.Z.) verweist in der Einleitung seiner zehn Kommentare zum Yijing (I Ching) zum ersten Mal auf Taiji: Wandlung (Yi) hat Taiji, das die zwei Pole (Liangyi) hervorbringt. „Tai“ in Taiji bedeutet „vor dem allerersten Anfang“ und „Ji“ in Taiji bedeutet „nach dem allerletzten Ende“. Ich werde erklären, was Konfuzius damit wie auch mit den „beiden Polen“ meint, auf die auch – wie ich zeigen werde – Platon verweist und ebenso Laozi. Laozi ist der erste, der von Dao und Dadao (Da = Groß, Dao = Weg) spricht (Dao-dejing, Kapitel 25):

Es gibt Chaos, das schon vor Himmel und Erde existierte, still und formlos. Es befindet sich in einem Zustand einer aus sich selbst heraus ernährenden kreisenden Bewegung. Man mag es die ‚Mutter der 10.000 Dinge’ nennen. Ich kenne seinen Namen nicht, deshalb nenne ich es Dao. Weil ich kein besseres Attribut für Dao finde, bezeichne ich es als groß (Da). Es fließt dahin und kehrt wieder zurück.

Chaos ist eine Umschreibung für Taiji (Dadao, daimónion), das noch durch viele weitere Umschreibungen wie z.B. Mutter der 10.000 Dinge ausgedrückt wird.

Ich komme nun zur Begründung meiner Interpretation der Zitate von Konfuzius, Laozi, Plato und Heraklit. Diese habe ich der chinesischen Dao-Lehre zu verdanken (Hubral, 2008, 2009, 2011), die mir mit Daoxing (Dao-Praxis) einen meditativen Weg anbietet, um das Denken zu erweitern und frei von gesellschaftlichen Zwängen zu machen. Diese Erweiterung verbirgt sich auch hinter den Zitaten von Platon und Heraklit. Was ich darüber berichte, sollte nicht nur Meditierende, sondern all diejenigen interessieren, die am Denken und seiner möglichen Erweiterung interessiert sind.

 

Dao-Lehre der drei Welten

Mein „Ich“ definiert sich durch das mir Bekannte (You), das durch meine fünf Sinne und das sie koordinierende Bewusstsein geprägt ist. Der Ursprung einer neuen Einsicht liegt jedoch im Unbekannten (Wu), dem Gegenpol zum Bekannten (You). Dazwischen liegt die vermittelnde Welt (Wuyou). Sie übersetzt Wu in You. Sie ist die Brücke zwischen beiden.

Damit habe ich die drei Welten oder Bewusstseinsebenen (Wu, Wuyou, You) der Lehre der drei Welten, der Taiji-Schöpfungslehre, bereits kurz angesprochen. Die deutschen Übersetzungen sind:

  • Wu = unzugängliche Welt = Nichtsein = oberste Welt = Himmel
  • Wuyou = erste Natur = Zwischenwelt = Mischung aus Wu und You
  • You = zweite Natur = vertraute Welt = Sein = unterste Welt  = Erde

Die drei Welten zeigen, dass das Dasein umfassender ist als die uns vertraute Welt (You). Es besteht aus You und der jenseitigen Welt (Wuyou, Wu). Von zentraler Bedeutung ist dabei Wuyou, das wie angedeutet von Laozi Dadao (großes Dao) oder Mutter der 10.000 Dinge und von Konfuzius Taiji (Tai Chi) genannt wird.

Auch habe ich die Natur zweigeteilt. Die erste Natur (Wuyou) ist die jenseitige kreative Natur (natura naturans), die dem diskursiven Denken, auf der Basis der Sprache, unzugänglich, aber dem intuitiven Denken, das auf die Sprache verzichtet, zugänglich ist. Die zweite Natur (You) ist die daraus hervorgegangene diesseitige Natur, die dem diskursiven Denken zugänglich ist. Das Nichtsein (Wu) ist weder intuitiv noch diskursiv erfahrbar. Es hat aber dennoch Einfluss auf das Denken. Damit ist die Lehre der drei Welten noch nicht ausreichend dargestellt. Dazu bedarf es der zwei folgenden Triebe, die in dialektischer Interaktion miteinander stehen:

  • Wuwei = natürlicher Trieb = Wirken (Wei) aus dem Nichtsein (Wu)
  • Youwei = gesellschaftlicher Trieb = Wirken (Wei) aus dem Sein (You)

Wuwei wirkt in Wuyou. Es wird durch Nicht-Handeln, Nicht-Denken oder geistiges Abschalten aktiviert, was ebenfalls Wuwei, Wirken (Wei) aus Wu, genannt wird.

Youwei wirkt in You. Es wird durch Tun, Streben, Kontrolle, Denken und Wille aktiviert, was ebenfalls Youwei, Wirken (Wei) aus You, genannt wird.

Youwei und Wuwei wirken einander entgegen. Auf dem Höhepunkt von Wuwei wird Youwei erzeugt und umgekehrt. Damit ist die Lehre der drei Welten in Bezug auf das Denken zusammengefasst. Auf ihren Ursprung in der meditativen Dao-Praxis gehe ich in meinen Büchern ein. Ich wende sie nun an, um das Denken zu verstehen und um zu zeigen, wie es natürlicher oder harmonischer gemacht werden kann.

 

Der kreisende Gedanke

Ein Gedanke kreist (rotiert) selbst-bewegt, selbst-steuernd und selbst-organisierend durch die drei Welten. Er nimmt seinen Ursprung in Wu. Danach fließt er von Wu über Wuyou zu You und über Wuyou zurück zu Wu, usw. Das drücke ich symbolisch wie folgt aus:

Wu > Wuyou > You > Wuyou > Wu > Wuyou > You >…

Jeder Übergang Wu > Wuyou > You beinhaltet: Wuyou übersetzt Wu zu You. Das heißt, Wuyou ist, allegorisch gesprochen, ein Dolmetscher, der intuitiv und diskursiv Unfassbares (Wu) in diskursiv Erfassbares (You) überträgt. Der Übergang, You > Wuyou > Wu, beinhaltet, dass der Gedanke in Wu wieder verloren geht, um danach neu und in weiter entwickelter Form aus Wu geboren zu werden. Jedes Mal, wenn er im Zyklus durch Wuyou passiert, wird er mit neuer Information aus Wu gespeist.

Wuyou wirkt also wie ein Füllhorn, das schöpferisch Neues ausschüttet. Auf diese Weise entwickelt sich der Gedanke immer weiter, bis er irgendwann vom Gedächtnis in You als akzeptabel erfasst, analysiert und sich und anderen Menschen diskursiv demonstriert werden kann. Irgendwann geht er auch wieder verloren.

Ich sehe das Kreisen im Einklang mit Plato (Cratylus 402a): Heraklit sagt irgendwo, dass alle Dinge in ständiger Entwicklung sind und nichts still steht: indem er die Dinge mit dem Strom eines Flusses vergleicht, sagt er, dass man nicht zweimal in denselben Fluss einsteigen kann.

Das Kreisen ist durch zwei Denkweisen geprägt: Intuitives Denken und diskursives Denken. Das intuitive erfolgt im jenseitigen Wuyou. Die treibende Kraft ist Wuwei. Das diskursive erfolgt im diesseitigen You. Die treibende Kraft ist Youwei. Das diskursive Denken greift auf die Sprache zurück, nicht aber das intuitive.

Beide Denkweisen wirken, wo wie auch beide Triebe, gegeneinander. Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Beide wechseln sich dialektisch ab. Sie gehen nahtlos ineinander über. Sie erzeugen einander. Sie liegen sozusagen im ständigen Streit. Ich sehe diese Dialektik im Einklang mit Heraklit (B 53): Pólemos patèr pánton (Der Streit ist der Vater aller Dinge).

Beide Triebe und Denkweisen sind unverzichtbar für die Entwicklung des sich stetig wandelnden Gedankens. Dieser nimmt zwei konkrete Zustände an: Unartikulierbare Einsicht in Wuyou und artikulierbare Idee in You.

Das diskursive Denken sorgt dafür, dass die noch unartikulierbare Einsicht an die vertraute artikulierbare Welt (You) angepasst wird. Sie wird damit sozusagen in das Korsett der Sprache gezwängt. In anderen Worten, der Denker wirkt der Einsicht entgegen. Diese erfolgt spontan. Sie ist Wu näher, als die Idee, die You erweitert.

Die Einsicht ist zwar intuitiv erfassbar, aber diskursiv kaum vermittelbar, weil es sich um eine Mischung aus You und Wu handelt. Wäre sie diskursiv erfassbar, könnte sie nichts Neues hervorbringen. Die Idee ist hingegen diskursiv begreif- und vermittelbar.

 

Altgriechische Äquivalente

Die Welten und Triebe haben Äquivalente in anderen Kulturkreisen. Wuyou = Taiji = Dadao = Mutter der 10.000 Dinge hat z.B. mehrere Äquivalente in der griechischen Antike. Dazu zählen daimónion, eón oder ón und apeirón. Daimónion wird oft mit „Gott“, eón (ón) mit „wahres Sein“ und apeirón mit „Unbegrenztes“ übersetzt.

In Anbetracht der obigen Denkanalyse und der Gleichung daimónion = Wuyou sollten wir nun das Platon Zitat verstehen: Nur das daimónion hat Einsicht, der Mensch kann nichts vollbringen. Ein weiteres Äquivalent für Wuyou ist kósmos noetós (schöpferischer kósmos). Dabei handelt es sich um den Mittelpunkt (Wuyou) des dreigeteilten kósmos: Wu, Wuyou, You.

Ein griechisches Äquivalent für Wuwei ist philía (Liebe) und für Youwei neíkos (Streben). Die Gleichheit der beiden Wortpaare deutet sich dadurch an, dass sowohl Youwei wie neíkos mit Streben übersetzt werden. Weitere Rechtfertigungen liefere ich in Hubral (2008). Damit muss auch philosophía, die Mutter der heutigen Philosophie, auf Wuwei verweisen. Dabei geht es offenbar um mehr als um die billige Floskel: Liebe zur Weisheit (sophía). Darauf gehe ich am Ende des Beitrags ein.

Philía und neíkos werden von ungeübten Interpreten der griechischen Antike oft mit Liebe und Hass übersetzt, was gänzlich unakzeptabel ist. Auch ist es nicht richtig, Wuwei (philía) als guten und Youwei (neíkos) als schlechten Trieb zu bezeichnen. Beide sind gleichermaßen wichtig, wie obige Denkanalyse zeigt. Doch Wuwei ist – wie ich sogleich zeige – der Schlüssel, um das Denken zu erweitern.

 

You: Welt des diskursiven Denkens

Das diskursive Denken braucht, worauf das Wort „Diskurs“ hinweist, Abwägungen zwischen Gegenüberstellungen. Sie sind ein Charakteristikum von You, der vertrauten Welt der 10.000 Dinge.

Welche Attribute, wie z.B. gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch, gut oder schlecht, rational oder irrational, wir einem Pol im Gegensatzpaar, wie z.B. Teil-Ganzes, Innen-Außen, Bereich-Grenze, Gestern-Morgen zuweisen, es handelt sich stets um kulturell geprägte nicht beweisbare Annahmen. Sie erfordern Konsens unter Gleichgesinnten, ein Daran-glauben und Für-wahr-halten. Dies gilt auch für das, was aus den Annahmen folgt. So kann z.B. eine neue Idee nur im Vergleich zu schon etablierten Ideen verstanden, beurteilt und vermittelt werden. Die Beurteilung ist stets relativ, da jeder von uns You verschieden wahrnimmt.

Auch ist die Sprache, die auf You basiert und You prägt, eingeschränkt, zumal sie ja das trennt, was innig zusammengehört. Der Physiker Werner Heisenberg (1901-1976), der sich in der Erforschung der „Ungewissheit“ verdient gemacht hat, schreibt: Jedes Wort und jeder Begriff, so klar er uns auch erscheinen mag, hat nur einen begrenzten Wert. Dazu ein Beispiel. 1+1 ist z.B. nicht exakt 2, sondern 1+1 = 2 ist, wie jeder Mathematiker weiß, ein unbeweisbares Axiom.

Dazu Herman Hesse (1877-1962): Alles was in Worte gefasst werden kann, ist nur die halbe Wahrheit. Worten fehlt die Vollständigkeit und die Einheit. Dies sehe ich in Platons Eudemus bestätigt: Die psyché (Seele) ist in sóma (You = körperliche Welt = diskursiv begreifbare Welt) eingesperrt, so dass sie die Dinge (in You) nur wie durch ein Gitter betrachtet.

 

Was ist Wuyou?

Es lohnt sich der Frage nachzugehen: Was ist Wuyou? Diese hat auch Aristoteles (384-322 v.u.Z) in Metaphysik (Met., 1060b 32f) gestellt, nur mit anderen Worten: ti tò ón?Was ist ón? Oder: Was ist daimónion? Wie könnte ich eine ausreichende Antwort in diesen wenigen Zeilen liefern? Der Leser muss sich damit begnügen, was ich über Wuyou in Bezug aufs Denken berichte. Mehr dazu findet man in meinen Büchern. Dort findet man auch das Laozi Zitat: Das Dao über das man sprechen kann, ist nicht das wirkliche Dao. In anderen Worten, Dadao = Taiji = Wuyou lässt sich nicht klar in Worte fassen.

Hier kommen nun die wesentlichen Merkmale von Wuyou. Es ist die kreative Welt, die sich hinter den Worten von Sir Karl Popper (1902-1994) verbirgt: Wir sind dann mit der Realität im Kontakt, wenn wir alle Theorien vergessen. Es ist die Welt zusammenfallender Gegensätze, die die getrennten Gegensätze von You erzeugt. Diese werden durch Wuwei in Wuyou zusammengeführt und durch Youwei in You getrennt.

Das griechische Wort für Zusammenführen ist synagogé und für Trennen diaíresis. Ich sehe das, was ich hier schreibe auch in guter Übereinstimmung mit Heraklit (Frag. 54): Von den vielen Teilen (You = 10.000 Dinge = pánta) resultiert das EINE (hén = Wuyou = Mutter der 10.000 Dinge), und aus dem EINEN (Wuyou) entstehen die vielen Teile (Dinge).

Dies macht Wuyou, das EINE (hén), zur Welt der ungetrennten Zweiheit (aóristos dyás) und You zur Welt der relativ beurteilten Zweiheit (dyás). Dies sollte uns die Worte von Heraklit verständlich machen: Für das daimónion (Wuyou) ist alles gerecht; nur die Menschen (die sich durch You definieren) halten das eine für gerecht und das andere für ungerecht. Die ungetrennte Zweiheit (Wuyou) erzeugt die Zweiheit (zwei Pole) von You, wie es Konfuzius zum Ausdruck bringt: Wandlung (Yi) hat Taiji, das die zwei Pole (Liangyi) hervorbringt. Laozi benennt die Zweiheit mit Himmel (Wu) und Erde (You): Es gibt Chaos, das schon vor Himmel und Erde existierte, still und formlos.

Wuyou ist also die formlose Welt des Sowohl-als-auch und nicht, so wie You, die formvolle Welt des relativ beurteilten Entweder-oder. Man erkennt es daran, weil Einsicht spontan erfolgt und konfus ist. Wäre sie Teil von You, wäre sie bekannt, hätte Form und könnte nicht neu sein. Wäre Wuyou diskursiv erfassbar, so könnte es nichts Neues hervorbringen. Wuyou ist die formlose Welt des kreativen Augenblicks, in der Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen.

 

Einsicht ist dort, wo das Ich nicht hingelangt

Es ist also nicht mein Ich, das sich mit You identifiziert, das – man höre und staune – Neues hervorbringt, sondern Wuyou (daimónion). Ich wiederhole: Nicht ich erlange neue Einsichten, sondern Wuyou, die Mischung aus Ich und Nicht-Ich. Alles in You resultiert aus Wuyou, dem Zentrum des dreigeteilten kósmos. Damit habe ich den Satz von Platon erklärt: Nur das daimónion (Wuyou) hat Einsicht, der Mensch (der sich durch You definiert) kann nichts vollbringen.

Wer die zentrale Bedeutung von Wuyou für das Denken akzeptiert, sollte ebenso anerkennen, dass die fundamentale Frage im Verständnis der Schöpfung nicht die von William Shakespeare (1564-1616) ist: Sein oder Nichtsein? Sie ist vielmehr: Wie bringe ich Wu (Nichtsein) und You (Sein) in die kreative Mischung (Wuyou) aus beiden Gegensätzen zusammen, sodass neue Einsicht spontan geboren wird?

 

Wann kommt es zur neuen Einsicht?

Wäre die Schöpfung auf You beschränkt, dann könnte der Mensch keine neue Einsicht erlangen und auch nicht fördern. Dadurch, dass sie aber in Wuyou fällt, ist beides möglich. Dies gelingt durch Hinwenden zu Wu in gedanklicher Abwesenheit. Damit erhöht der Denker den kreativen Wu-Anteil in Wuyou, der Neues hervorbringt. Dies erfolgt in Ruhe und Entspannung.

So soll z.B. Archimedes (285-212 v.u.Z.) angeblich das Archimedische Prinzip in der Badewanne und Newton (1642–1727) das Gravitationsgesetz unter einem Apfelbaum entdeckt haben. Auch wenn dies nur Mythen sind, so werden mir Leser gewiss bestätigen, dass auch sie Einsichten an „stillen Örtchen“ spontan erlangten und nicht, als sie ein Problem konzentriert, also diskursiv zu lösen versuchten.

Selbstverständlich sorgt die Natur dafür, dass wir regelmäßig abschalten, z.B. im Schlaf. Doch das gelingt ihr umso weniger, je mehr wir uns Youwei, dem willentlichen Tun und Handeln, im Alltag zuwenden. Dazu zählt auch zu einseitig diskursives Denken. Damit entfernen wir uns vom Zentrum des seelischen kósmos: Wuyou. Damit unterdrücken wir neue Einsichten.

Einseitiges diskursives Denken erzeugt, so wie jedes übertriebene Tun und Handeln, Stress mit vielfältigen Symptome: Frust, Eitelkeit, Aggressivität, Erschöpfung, Burnout, Depression, usw. Es ist ein Hindernis, von der Schöpfung „beflügelt“ zu werden.

Dies entnehme ich dem Platon Zitat: Der Körper (sóma) ist für uns ein Grab (séma). Körper (sóma) ist ein Verweis auf die diskursiv begreifbare Welt, die „körperliche Welt“: You. Die ihr übergeordnete intuitiv erfassbare kreative Welt (Wuyou) ist hingegen diskursiv nicht begreifbar. Sie ist konfus.

Platon legt uns also ans Herz, dass uns neue Einsichten wichtiger als etablierte Erkenntnisse sein sollten, so wie es Albert Einstein (1879 -1955) auch anspricht: Die Imagination ist wichtiger als das Wissen.

 

Wie lassen sich natürliche Einsichten fördern?

Die Schöpfung bietet uns an, von ihr mehr als gewöhnlichen Nutzen zu ziehen. Dazu muss man Wuwei bewusst aktivieren. Dazu stehen uns in traditionellen chinesischen Schulen so genannte Wuwei-Schulen zur Verfügung (Hubral, 2008, 2009, 2011a, 2011b), die den willentlichen Kontrollverlust oder die Weltabgewandtheit, also Wuwei, rigoros fördern. Dies geschieht insbesondere mit der Dao-Praxis, auf die ich hier nicht eingehen kann. Je inniger man sich damit entspannt, umso mehr ergießt sich das Füllhorn: Wuyou. Umso mehr wirkt Wuwei (philía).

Einsichten, die für vertrautes zielorientiertes Denken von Nutzen sind, werden damit zunehmend zur Wiedererinnerung (anamnésis). Diese liefert Offenbarungen im Sinne des Sokratischen gnóthi seautón (Erkenne dich Selbst), die ohne Zielvorstellung „aus sich heraus (autha kathauta)“ zustande kommen. Damit nähert sich der Übende dem Ursprung (Wu) von You an, der alles Neue hervorbringt, das sich aus Wuyou in You ergießt: 10.000 Dinge, Kultur, diskursives Denken, unzählige Ideologien, Tun, etc.

 

Schlussfolgerung

Ich habe – auf der Basis der Dao-Lehre – die beiden tiefgründigen Aussagen von Platon und Heraklit begründete: Nur das daimónion (Wuyou) hat Einsicht, der Mensch kann nichts vollbringen. Für das daimónion (Wuyou) ist alles gerecht; nur die Menschen halten das eine für gerecht und das andere für ungerecht. Sie tragen dazu bei, die weit verbreitete Egozentrik im heutigen Denken zu überwinden und die Schöpfung mit einer gewissen Bescheidenheit zu respektieren

Sie sorgen dafür, die eigene Vorstellung von schön, gut, gerecht usw. zu relativieren und Toleranz gegenüber anderen Menschen auszuüben. Sie zeigen, dass ein kooperatives Sowohl-als-auch-Denken mehr im Einklang mit der Schöpfung ist als ein entzweiendes Entweder-oder-Denken oder gar ein Polarisieren. Sie vertiefen das Verständnis der altgriechischen philosophía, bei der es, so wie in heutigen Wuwei-Schulen, darum ging, Wuwei (philía) bewusst durch Übungen zu fördern, um damit Weisheit (sophía) zu erlangen.

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Foto: © 123rf – Todd Arena

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